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Die Rolle des Berufskollegs im nordrhein-westfälischen Bildungssystem

Bilanzierung: Leistungsspektrum, Leistungspotenziale und Ansätze zur Weiterentwicklung der Berufskollegs in NRW

Prof. Dr. Dieter Euler
Prof. Dr. Dieter Euler
Kurzfassung Ruhrgebiet
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Die Rolle des Berufskollegs im nordrhein-westfälischen Bildungssytem
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Leistungsspektrum und Potenziale

Ökonomische Leistungsfähigkeit: Beitrag zur Deckung des Bedarfs an qualifizierten Fachkräften

In den 16 Bildungsgängen werden qualifizierte Fachkräfte auf die Bewältigung gegenwärtiger und zukünftiger Herausforderungen vorbereitet. Durch die Ausrichtung am Berufsprinzip werden berufliche Handlungskompetenzen nicht nur für einen einzelnen Betrieb, sondern für die Breite eines Berufsfelds entwickelt. Die Verzahnung von theoretischer Fundierung und praktischem Tun begründet die Aneignung von Kompetenzen, die für eine qualifizierte Facharbeit bei in sich wandelnden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen erforderlich sind.

Soziale Integration: Beitrag zur Sicherung der Teilhabechancen auch für Jugendliche mit Startnachteilen

Berufskollegs leisten einen markanten Beitrag zur sozialen Integration von Jugendlichen mit Startnachteilen und wirken einem Abgleiten der Jugendlichen in den Kreis der Un- und Angelernten entgegen:

  • Sie ermöglichen weiterführende allgemeinbildende Schulabschlüsse im Rahmen einer Nachholbildung.
  • Sie versorgen insbesondere Jugendliche mit ausländischer Staatsangehörigkeit mit abschlussorientierten Bildungsangeboten.
  • Sie bieten Jugendlichen ohne Bildungsabschluss neue Optionen zur Gestaltung ihres Bildungswegs.
  • Sie bieten wie schon in den Jahren 2015/16 in kurzer Zeit bedarfsgerechte Bildungswege für neu zugewanderte Schutzsuchende.
  • Sie bieten Unterstützung für Lernende mit besonderem Förderbedarf.

Individuelle Persönlichkeitsentwicklung: Durchlässige Bildungswege zum Erwerb beruflicher und gesellschaftlicher Handlungskompetenzen

Die vier Bereiche Übergangsektor, duale Berufsausbildung, Schulberufssystem und berufliche Weiterbildung bieten je spezifische Profile zur Ansprache der individuellen Bildungsbedürfnisse der Lernenden.

Im Übergangssektor zielen drei Bildungsgänge auf eine berufliche Orientierung, den Erwerb beruflicher Handlungskompetenzen sowie den Erwerb allgemeinbildender Bildungsabschlüsse im Rahmen einer Nachholbildung.

In der dualen Berufsausbildung trägt die schulische Komponente in Berufskollegs dazu bei, dass über eine berufsbreite Kompetenzentwicklung die Mobilität, eine breite berufliche Einsetzbarkeit und damit die Arbeitsmarktfähigkeit der Auszubildenden gewährleistet wird.

Im Schulberufssystem besteht die Attraktivität der Bildungsgänge u. a. in der Verbindung von allgemeinen und beruflichen Abschlüssen.
Die berufliche Weiterbildung in Fachschulen schafft neue Optionen des Fort- und Einkommens, des beruflichen Aufstiegs in herausfordernde Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten sowie des Erwerbs von Bildungsabschlüssen.

Stabile Säule in der Stärkung der dualen Berufsausbildung

Das Berufskolleg trägt maßgeblich zur Qualitätsentwicklung der dualen Berufsausbildung bei. Die Lern- und Arbeitserfahrungen aus der betrieblichen Ausbildung werden im Berufskolleg systematisiert, vertieft und erweitert.

Über das Fachklassenprinzip erfolgt eine Kompetenzentwicklung nahe am Berufsfeld bzw. an den betrieblichen Arbeitsprozessen. Zahlreiche Auszubildende haben bereits vor Aufnahme einer dualen Berufsausbildung einen Bildungsgang am Berufskolleg abgeschlossen.

Enge Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung

Viele der Bildungsgänge gewinnen ihre Attraktivität durch die Verknüpfung eines allgemeinbildenden Abschlusses mit einem Berufsabschluss bzw. dem Erwerb beruflicher Qualifikationen. Die Verbindung erfolgt insbesondere im Hinblick auf den Erwerb von Bildungsabschlüssen bis hin zur Verzahnung von beruflicher und akademischer Bildung im Rahmen dualer Studiengänge bzw. einer studienintegrierenden Ausbildung.

Berufskolleg als regionales Kompetenzzentrum

Das Berufskolleg kann mit seinem spezifischen Profil an Bildungsgängen in der Aus- und Weiterbildung als ein regionales Kompetenzzentrum verstanden werden, das neben der Bewältigung von Pflichtaufgaben aktiv die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung in der Region unterstützt. Im regionalen Kontext ist das Berufskolleg ein Schrittmacher in der Umsetzung anstehender Strukturveränderungen.

Herausforderungen

Limitierende Rahmenbedingungen – reaktiver Handlungsmodus

Arbeits- und Ausbildungsmarkt stellen sich in NRW herausfordernder dar als im Bundesdurchschnitt. Bei der Angebots-Nachfrage-Relation etwa besteht eine deutliche Lücke auf dem Ausbildungsmarkt. Bei der Entwicklung und dem Angebot von Bildungsgängen ist das Berufskolleg in die politische und rechtliche Gesamtstruktur des Berufsbildungssystems eingebunden. Dies bedeutet für die einzelnen Bildungsgänge unterschiedliche Grade an Gestaltungsfreiheit. In einigen Handlungsfeldern befindet sich das Berufskolleg in einem reaktiven Handlungsmodus.

Verdrängungsdynamiken

Der Anteil von Auszubildenden mit Hochschulzugangsberechtigung (HZB) ist kontinuierlich gestiegen, zugleich hat die Zahl der Studierenden zugenommen, die nach Abbruch des Studiums eine duale Berufsausbildung aufnehmen. Diese Entwicklungen führen auf einem segmentierten Ausbildungsmarkt zu Verdrängungsprozessen nach unten.

Ausgleich in pfadabhängigen Bildungsverläufen

Ausgehend von den Befunden der PISA-Studien, nach denen ca. 20 % der Jugendlichen die allgemeinbildenden Schulen ohne hinreichende Basiskompetenzen in Lesen, Schreiben und Rechnen verlassen, wächst auch dem Berufskolleg die Aufgabe zu, für diese Defizite kompensatorische Konzepte umzusetzen.

Übergangssektor als robuste Bugwelle

Trotz der in den 2010er-Jahren prosperierenden Wirtschaftskonjunktur, der Fachkräfteknappheit sowie der rückläufigen Zahl an Schulabgängerinnen und -abgängern ist es nicht gelungen, den Übergangssektor deutlich zu reduzieren. Eine Gefahr besteht darin, dass sich in Deutschland die im OECD-Vergleich hohe Zahl an Un- oder Angelernten im Beschäftigungssystem verfestigt.

Duale Berufsausbildung zwischen Passungsproblemen und Akademisierungstrend

Der quantitative Rückgang dualer Ausbildungsplätze verdeckt die hinter dieser Entwicklung liegenden komplexen Zusammenhänge. Das Zusammenwirken von betrieblichem Ausbildungs- und individuellem Bildungsverhalten führt zu regionalen Unterschieden in der Passung von Angebot und Nachfrage.

Eine Herausforderung ist der Umgang mit dem Akademisierungstrend. Der Zuwachs an Hochschulzugangsberechtigungen führte zu einer Verschiebung von der beruflichen in die akademische Bildung. Den Berufskollegs stellt sich hier die Frage, inwieweit sie sich in der Gestaltung dualer Studiengänge u. ä. engagieren sollten.

Folgen der Pandemie

Die Coronapandemie hat 2020 zu einem Einbruch der dualen Ausbildungsstellen geführt. Offen ist, inwieweit dieser Einbruch temporär begrenzt bleibt oder zu einer dauerhaften quantitativen Absenkung der dualen Ausbildungsstellen führt.

Unabhängig von diesen quantitativen Entwicklungen wirft die Pandemie Fragen auf, mit denen sich auch das Berufskolleg beschäftigen muss:

  • Welche Folgen resultieren aus den durch die Pandemie verzögerten Entwicklungsprozessen, insbesondere bei Jugendlichen mit Startnachteilen? Wie kann in den Bildungsgängen des Berufskollegs gegengesteuert werden?
  • Wie können die sichtbar gewordenen mangelnden digitalen Ausstattungen auch in Berufskollegs beschafft und eingesetzt werden?
  • Wie können die bei einem Teil der Lehrkräfte deutlichen Verbesserungspotenziale zur Gestaltung eines Unterrichts mit Unterstützung digitaler Technologien gehoben werden?
  • Welche Lernkonzepte können (weiter)entwickelt werden, um die begrenzte digitale Teilhabe von Jugendlichen mit Startnachteilen unter den Bedingungen der Pandemie auszugleichen?
  • Inwieweit sollen durch digitale Technologien ermöglichte neue Formen der Lernorganisation in Richtung eines „virtuellen Berufskollegs” weitergeführt werden?

Ansätze zur Weiterentwicklung

Im Übergangssektor liegt der Schwerpunkt darauf, die Abschlusszahlen beim Erwerb der möglichen allgemeinbildenden Abschlüsse sowie die Übergangszahlen in eine duale Berufsausbildung zu erhöhen. Einer großen Zahl von Jugendlichen gelingt es auch nach den drei aufeinander aufbauenden Bildungsgängen des Übergangssektors nicht, eine qualifizierte Berufsausbildung zu beginnen. Die Erhöhung der Übergangszahlen liegt in der Gestaltungshoheit der Betriebe. Das Berufskolleg kann nur die Voraussetzungen für einen Übergang unterstützen. Bezogen auf die beiden einjährigen Bildungsgänge der Berufsfachschule (BFS) ist zu prüfen, ob der Umfang sinnvoll gestalteter, schulisch begleiteter Praktikumszeiten erweitert und so der Grad der Dualisierung erhöht werden kann.

Drei Optionen könnten der Verfestigung eines dauerhaften Sockels von Jugendlichen im Übergangssektor entgegenwirken:

  • Kampagne zur Gewinnung von Betrieben für die Ausbildung von BFS-Absolventen mit Anrechnung.
  • Empfehlung an die Spitzenverbände der Wirtschaft, eine BFS-Absolvierung anzurechnen.
  • Subsidiäre Schaffung von Ausbildungsplätzen nach Berufsbildungsgesetz/Handwerksordnung (BBiG/HWO).

In der dualen Berufsausbildung stehen für verschiedene Bereiche unterschiedliche Ansatzpunkte im Vordergrund:

  • Für Auszubildende mit Startnachteilen sollten Unterstützungsstrukturen ausgebaut werden, um mehr Jugendliche zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen. Dies kann u. a. durch eine zeitliche Streckung der Ausbildung und durch eine bedarfsorientierte Steuerung pädagogischer Ressourcen erfolgen.
  • Im oberen Segment der dualen Berufsausbildung erscheint eine proaktive Auseinandersetzung mit dem Akademisierungstrend erforderlich, einerseits durch die Analyse bestehender Formen des Erwerbs der Fachhochschulreife in der dualen Berufsausbildung sowie im Rahmen von Bildungsgängen der Fachoberschule (FOS). Zum anderen wäre zu prüfen, inwieweit Formen des dualen Studiums bzw. der sich in der Erprobung befindlichen studienintegrierenden Ausbildung zu einer Stärkung der dualen Berufsausbildung beitragen.
  • Übergreifend ist das Fachklassenprinzip zu sichern, u. a. durch die verstärkte Kooperation zwischen Berufskollegs im Rahmen regionaler Bildungszentren.

Innerhalb des Schulberufssystems wären Ansätze zur verstärkten Teilhabe unterrepräsentierter Zielgruppen wie beispielsweise Jugendliche mit Migrationshintergrund, aber auch weibliche Jugendliche in bestimmten Fachbereichen wie der Informatik, zu erkunden.

In der beruflichen Weiterbildung, wie prinzipiell auch in anderen Bildungsgängen des Berufskollegs, steht die Frage auf der Agenda, wie durch einen verstärkten Einsatz technologieunterstützter Lehr- und Lernformen ein didaktischer, aber auch bildungsökonomischer Mehrwert erzielt werden kann. Die gewonnenen Erfahrungen aus der Coronapandemie bieten hier Ansatzpunkte, inwieweit aus der Not geborene Ansätze verstetigt und weiterentwickelt werden können.

Insgesamt besteht Konsens darin, dass die Verbesserung der infrastrukturellen Ausstattung, der Digitalisierung und Aus- und Fortbildung von Lehrkräften weiterhin eine hohe Priorität besitzen. Zugleich besteht ein kontinuierlicher Verhandlungsprozess darin, die Position von Berufskollegs in formellen und informellen regionalen Akteurskonstellationen der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik zu stärken.

Spezifika Ruhrgebiet

Für die ökonomische und soziale Entwicklung des Ruhrgebiets ist die Funktion des Berufskollegs als regionales Kompetenzzentrum von besonderer Bedeutung. Über das Berufskolleg können regionale Aus- und Weiterbildungsbedarfe identifiziert und in passende Bildungsangebote umgesetzt werden. Diese für die regionale Strukturentwicklung bedeutsame Funktion nehmen viele Berufskollegs bereits heute wahr – und können sie durch den Ausbau regionaler Kooperationsstrukturen im Verbund mit anderen Berufskollegs und weiteren regionalen Bildungsakteuren weiter intensivieren.


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