Die Rolle des Berufskollegs im nordrhein-westfälischen Bildungssystem
Funktionen und Bedeutung des Berufskollegs in den Sektoren des Berufsbildungssystems
Ökonomische Leistungsfähigkeit
Für alle Schulabgängerinnen und -abgänger ohne Einmündung in eine qualifizierte Berufsausbildung schafft der schulische Übergangsbereich über die dreistufige Struktur mit seinen klaren Zugangswegen sinnvolle Anschlussoptionen, die prinzipiell auf eine berufliche Qualifizierung sowie den Erwerb weiterer Bildungsabschlüsse zielen. Die Zugangswege sind auf die anschließende Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung ausgerichtet. Damit trägt der schulische Übergangsbereich dazu bei, dass Fachkräftepotenziale erschlossen bleiben und Schulabgängerinnen und -abgänger nicht vorzeitig in den Kreis der Un- und Angelernten im Beschäftigungssystem abrutschen.
Das Leitziel einer dualen Berufsausbildung ist der Erwerb einer beruflichen Handlungskompetenz. Mit diesem Ziel ist nicht lediglich die Vorbereitung auf die aktuellen Arbeitsanforderungen des Ausbildungsbetriebs verbunden, sondern die Vorbereitung auf die gegenwärtigen und zukünftigen Handlungsanforderungen eines Berufsfelds. Der Unterricht im Berufskolleg trägt maßgeblich zur Entwicklung einer umfassenden Handlungskompetenz bei, da er ergänzend zu den Lern- und Arbeitserfahrungen aus der betrieblichen Ausbildung die Vorbereitung auf die Anforderungen eines breiteren Berufsfelds gewährleistet. Im Berufskolleg treffen die Erfahrungen der Auszubildenden aus unterschiedlichen Betrieben zusammen und können dort reflektiert und generalisiert werden. Durch diese Kombination entsteht das Potenzial der für die duale Berufsausbildung charakteristischen Verbindung von Reflexion und Aktion, Theorie und Praxis, Systematik und Kasuistik.
Über das Schulberufssystem wird die ökonomische Leistungsfähigkeit in der Form gestärkt, dass betriebliche und gesellschaftliche Qualifizierungsbedarfe entweder exklusiv oder kompensatorisch gedeckt werden. Zudem kann das Schulberufssystem dazu beitragen, dass zukunftsrelevante Bedarfe früh aufgenommen und nach einer Konsolidierung der Nachfrage in das Spektrum der dualen Ausbildungsberufe integriert werden können. Das Schulberufssystem trägt mit seinen Bildungsgängen wesentlich dazu bei, allgemeinbildende Schulabschlüsse in einer beruflichen Ausrichtung anzubieten und damit eigenständige, beruflich ausgerichtete Kompetenzprofile zu generieren. Damit leistet das Berufskolleg insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Anhebung beruflicher Kompetenzniveaus, die den Bedarfen an flexibel ausgebildeten Fachkräften entsprechen.
Die Fachschule innerhalb des Berufskollegs trägt mit differenzierten Weiterbildungsgängen zur Deckung fachlicher Qualifikationsbedarfe in der Region bei. Die Bildungsgänge bieten in den jeweiligen Berufsfeldern eine systematische Aufstiegsfortbildung. Die Weiterbildung steigert das Niveau der Humanressourcen und leistet einen bedeutenden Beitrag zur ökonomischen Leistungsfähigkeit der jeweiligen Wirtschaftsbereiche.
Durch die unterschiedlichen Bildungsgänge und die dort unterrichtenden Lehrkräfte bildet das Berufskolleg ein regionales Kompetenzzentrum, dass die laufenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der Region unterstützt. Es besitzt zudem das Potenzial, kurz- und mittelfristig auftretende Strukturveränderungen durch pro- und reaktive Qualifizierungsprogramme zu begleiten und gemeinsam mit anderen Akteuren diese Entwicklungen zu gestalten.
Soziale Integration
Der Anteil der Lernenden im Übergangssektor mit niedrigen Schulabschlüssen und ausländischer Staatsangehörigkeit ist insbesondere nach 2014 deutlich gestiegen. Mit Blick auf die starke Zuwanderung von Asyl- und Schutzsuchenden 2015/16 leistete das Berufskolleg einen zentralen Beitrag zur sozialen Integration dieser Menschen.
Der mögliche Erwerb eines (weiteren) Schulabschlusses in den schulischen Bildungsgängen des Übergangssektors gelingt 2020 nur einem Teil der Schülerinnen und Schüler. Von den ca. 27.000 Schülerinnen und Schülern in der AV erreichten ca. 7.700, von den ca. 9.000 Schülerinnen und Schülern der BFS (HSA Klasse 10) erreichten 5.600 den Hauptschulabschluss. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ca. 20 % bereits mit einem erworbenen Bildungsabschluss in die AV eintraten. Positiv ist zu werten, dass sich die Zahlen von 2016 bis 2020 in beiden Bildungsgängen der BFS deutlich verbessert haben.
Die Vielfalt an Ausbildungsberufen aus unterschiedlichen Berufssegmenten impliziert auch die Herausforderung, in einer Vielzahl von Ausbildungsberufen die unverändert bedeutsame Zahl von Auszubildenden mit Startnachteilen zu einem Ausbildungsabschluss zu führen. Die Berufskollegs leisten hier u. a. durch das Angebot von Stützunterricht einen wesentlichen Beitrag zur Förderung dieser Zielgruppen, auch wenn sie bei entsprechendem Umfang der sprachlichen, kognitiven oder sozialen Förderbedarfe an institutionelle Grenzen stoßen können. Viele dieser Integrationsaktivitäten lassen sich im sozialen, organisatorischen und kulturellen Rahmen des Schulunterrichts aufnehmen, andere erfordern die Einbeziehung fachübergreifender Expertise im Rahmen multiprofessioneller Teamansätze.
Schulabgängerinnen und -abgänger mit Startnachteilen können im Schulberufssystem einen Einstieg in Ausbildung und Beruf finden. Dadurch kann die soziale Integration auch jener Gruppen gefördert werden, die ansonsten insbesondere auf angespannten Ausbildungsmärkten keine tragfähige Anschlussoption finden. Der Beitrag des Schulberufssystems zur Kompensation bestehender Startnachteile einzelner Zielgruppen erscheint ausbaufähig. Jugendliche mit ausländischer Staatsangehörigkeit sind in den meisten Bildungsgängen unterproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil anzutreffen. In diesem Bereich besitzen Berufskollegs ein Potenzial zur Weiterentwicklung.
Die Bildungsgänge in der Fachschule sind zumeist für Zielgruppen mit einer bereits ausgeprägten Lernmotivation in einem fortgeschrittenen beruflichen Entwicklungsprozess konzipiert. In der Begleitung regionaler Strukturveränderungen kann jedoch auch die Fachschule mit dazu beitragen, von den Veränderungen gefährdete soziale Gruppen im Berufs- und Arbeitsleben verankert zu halten und in diesem Sinne deren soziale Integration zu fördern.
Individuelle Persönlichkeitsentwicklung
In den Bildungsgängen des schulischen Übergangssektors werden die Schülerinnen und Schüler mit Kompetenzen ausgestattet, die relevant für Wirtschaft und Gesellschaft sind und ihnen eine Beschäftigung ermöglichen, die ihren Interessen und Fähigkeiten entspricht. Sofern sie auf dem Ausbildungsmarkt keinen Ausbildungsplatz erhalten, der im Korridor ihrer Neigungen liegt, bietet der Übergangsbereich anschlussfähige Optionen und verhindert so das Abgleiten in eine Ungelerntentätigkeit. Der schulische Übergangsbereich bietet zudem eine Art Nachholbildung zum Erwerb eines Hauptschul- bzw. Mittleren Bildungsabschlusses.
Aus der individuellen Perspektive führt das Berufsprinzip zum einen zu einer erhöhten Mobilität und damit Arbeitsmarktfähigkeit, da die erworbenen Kompetenzprofile nicht nur im jeweiligen Ausbildungsbetrieb, sondern in einem mehr oder weniger breit gespannten Berufsfeld relevant sind. Zum anderen bietet das Berufskolleg über den Differenzierungsbereich des Curriculums die Möglichkeit, auf die individuellen Förderbedarfe (in Form eines Stützunterrichts) bzw. Vertiefungsbedarfe (in Form der Zusatzqualifikationen) einzugehen. Zugleich erhalten die Auszubildenden mit der Berufsausbildung weitere Gelegenheiten zum Erwerb höherer Schulabschlüsse.
Das Schulberufssystem bietet insbesondere auch jenen Jugendlichen attraktive Bildungswege, die berufliche und allgemeinbildende Bildungsabschlüsse verbinden wollen. In besonderer Weise werden die Entwicklungsbedarfe jener Jugendlicher angesprochen, die den Erwerb höherer Schulabschlüsse mit einer Orientierung und Qualifizierung in beruflichen Handlungsfeldern verbinden wollen. Für diese Bildungsnachfrageprofile schaffen geeignete Bildungsgänge einen Beitrag zur individuellen Persönlichkeitsentwicklung.
Die in der Fachschule angebotenen Weiterbildungsprogramme bieten berufserfahrenen Arbeitskräften ohne Hochschulzugangsberechtigung eine systematische Form der Weiterentwicklung ihrer beruflichen Handlungskompetenzen außerhalb der Hochschulen. Neben der Vorbereitung auf Führungsaufgaben in Betrieben, Verwaltungen und anderen Einrichtungen besteht die Möglichkeit des Erwerbs der Fachhochschulreife.