Bildungsbericht Ruhr 2024
Allgemeinbildende Schulen
Hohe Schulformtreue beim Wechsel von der Primar- in die Sekundarstufe I
Der Wechsel von einer allgemeinen Schule an eine Förderschule ist in allen Phasen der schulischen Bildungsbiografie zu beobachten, findet jedoch zumeist in der Primarstufe sowie beim Übergang in die Sekundarstufe statt. In der Regel sind die Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zwischen dem dritten und fünften Schulbesuchsjahr abgeschlossen, womit die Wahl der Schulform einhergeht.
Beim Übergang von der Primarstufe in die Sekundarstufe I zeigt sich eine hohe Schulformtreue: 82 % der Kinder, die eine inklusive Grundschule besucht haben, wechseln auf eine allgemeine weiterführende Schule (Tabelle 3.3). Von den Kindern, die in der Primarstufe eine Förderschule besucht haben, verbleiben bei bestehendem Förderbedarf Lernen 88 % in der Förderschule. Bei dem Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung liegt dieser Anteil bei 75 %. Diese Schüler*innen werden, sofern sie nicht Lernen als zweiten Förderbedarf haben, in den allgemeinen Schulen lernzielgleich unterrichtet, sodass sie einen allgemeinen Schulabschluss erwerben können. Der Förderschwerpunkt Sprache ist in der Primarstufe auf eine lernzielgleiche Beschulung und auf den Übergang in das allgemeine Schulsystem ausgerichtet. Kinder mit dem alleinigen Förderbedarf Sprache wechseln am Ende der Primarstufe in der Regel auf eine allgemeine Schule.
Inklusive Beschulung verbessert nicht die Entwicklungschancen von Jugendlichen mit Förderschwerpunkt Lernen
Die Förderschwerpunkte Lernen und geistige Entwicklung sind mit einer lernzieldifferenten Beschulung verbunden (Bildungsgang Lernen bzw. Bildungsgang Geistige Entwicklung). Das Verfahren zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs wird eingeleitet, wenn die Beeinträchtigungen so ausgeprägt sind, dass die Mindeststandards und Lernziele der Grundschule oder der Erste Schulabschluss voraussichtlich nicht erreicht werden können (§ 4 Abs. 1 Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung AO-SF vom 29.04.2005; Kultusministerkonferenz, 2021). Werden die Förderschwerpunkte Lernen oder geistige Entwicklung ausgewiesen, bedeutet dies,
- dass die Kinder seit 2015/16 keine Grundschulempfehlung mehr erhalten;
- dass in den allgemeinen Schulen die Leistungen der Schüler* innen nicht in das Ranking der Lernstandserhebungen eingehen;
- dass Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Lernen sowohl an der Förderschule als auch an der inklusiven allgemeinen Schule den Ersten Schulabschluss erwerben können, wenn sie die entsprechenden Leistungsnachweise erbracht haben.
Die Förderquoten Lernen, die Grundschulempfehlungen und der Erwerb des Ersten Schulabschlusses können miteinander in Beziehung gesetzt werden: Der Anstieg der Förderquoten in den Jahrgängen 4 und 5 ist bei den Grundschulempfehlungen erwartungsgemäß mit einem Anstieg der Quote „Keine Empfehlung“ verbunden (Tabelle 3.4). Dies ging jedoch ausschließlich zulasten der Empfehlungen für das Leistungsniveau Hauptschule. Der Anteil der Empfehlungen für das Leistungsniveau Realschule oder Gymnasium ist dagegen angestiegen.
Parallel zum Anstieg der Förderquote Lernen steigt der Anteil der Jugendlichen, die trotz einer festgestellten Lernbehinderung den Ersten Schulabschluss erreichen.
Die Differenzierung nach Schulformen lässt für die Metropole Ruhr nicht erkennen, dass die inklusive Beschulung dazu führt, dass Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Lernen an allgemeinen Schulen grundsätzlich bessere Entwicklungschancen haben. In beiden Schulformen wird der Erste Schulabschluss häufiger erworben, als dies noch 2015 der Fall war (Abbildung 3.33). Wohl liegt der Anteil an allgemeinen Schulen derzeit höher als der an Förderschulen; jedoch verlassen an den allgemeinen Schulen deutlich mehr förderbedürftige Jugendliche die Schule ohne Abschluss.
Der zunehmende Erwerb des Ersten Schulabschlusses wäre positiv zu bewerten, sofern sich Belege dafür finden ließen, dass die verbesserte Qualität der sonderpädagogischen Förderung dazu geführt hat, dass mehr Jugendliche mit einer zuvor festgestellten ausgeprägten intellektuellen Leistungsminderung zum Erwerb eines allgemeinen Schulabschlusses geführt werden konnten. Das Datenmaterial kann jedoch auch dahingehend interpretiert werden, dass Grundschulkinder im unteren Leistungsniveau, die noch vor wenigen Jahren die Grundschule mit einer Hauptschulempfehlung verlassen hätten, nun als „lernbehinderte Kinder“ mit sonderpädagogischem Förderbedarf eingestuft werden. Dies würde einer Verlagerung der Förderung leistungsschwacher Schüler*innen aus der allgemeinen Schulpädagogik in die Sonderpädagogik bedeuten.
Sonderpädagogik sowie Integrations- und Begabtenpädagogik müssen integrale Bestandteile der allgemeinen Schulen sein
Im Kontext der Lern- und Entwicklungsstörungen orientieren sich die Verfahren zur Eröffnung und Bewilligung eines Sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht nur an individuelle Kompetenzen und Förderbedürftigkeiten der Schüler*innen. Vielmehr haben schulsystemimmanente sowie kommunale schulpolitische Entscheidungen einen großen Einfluss auf die Bildungsbiografien der Kinder und Jugendlichen.
Diese systemischen Bedingungsfaktoren werden in dem gemeinsamen Gutachten zum wissenschaftlichen Prüfauftrag zur steigenden Anzahl der Schüler*innen mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung deutlich herausgearbeitet (MSB NRW, 2024a) und bilden sich ebenso über die vorliegende Analyse der Schulstatistik ab. „Angesichts der komplexen systemischen Verwobenheit der sonderpädagogischen Feststellungsverfahren mit den Strukturen des nordrhein-westfälischen Schul- und Bildungssystems ist darauf hinzuweisen, dass die vorliegenden Ergebnisse und Empfehlungen nicht losgelöst voneinander, sondern in Wechselbeziehung zueinander stehen. Die von uns vorgenommenen Analyseschritte legen systemische Problemlagen bezüglich des sonderpädagogischen Feststellungsverfahrens offen, die nicht von den Akteurinnen und Akteuren auf der Stufe der Einzelschule zu lösen sind, sondern auf bildungspolitischer Ebene bearbeitet werden müssen“ (MSB NRW, 2024a, S. 31).
Die gewonnenen Erkenntnisse legen nicht nur eine Weiterentwicklung der Verfahren zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs nahe, sondern auch eine Weiterentwicklung der schulpädagogischen Systeme. Die Bereitstellung notwendiger Ressourcen für die individuelle Förderung muss von der individualisierten Statuszuschreibung „sonderpädagogischer Förderbedarf“ abgekoppelt werden. Stattdessen muss die Sonderpädagogik ebenso wie eine Integrations- oder Begabtenpädagogik integraler Bestandteil der allgemeinen Schulen sein. Förderschulen sollten als Lern- und Entwicklungsraum mit einem spezialisierten sonder- und heilpädagogischen Angebot primär Kindern und Jugendlichen mit komplexen Einschränkungen oder Behinderungen vorbehalten sein.