Bildungsbericht Ruhr 2024

Rahmenbedingungen

Prof. Dr. Jörg-Peter Schräpler
Sebastian Jeworutzki

1.2. Demografische Entwicklung

Demografische Entwicklungen sind von zentraler Bedeutung für das Bildungssystem, da Geburten und Migrationsprozesse die Nachfrage nach Bildungsangeboten determinieren. Die Erwartungen an die zukünftige Entwicklung der Bevölkerung spielen eine herausragende Rolle bei der Bildungsplanung in den Kommunen und auf Ebene des Landes. Vor diesem Hintergrund wurden im letzten Bildungsbericht insbesondere die Entwicklung der bildungsrelevanten Altersgruppen und die Vorausberechnung der Schüler*innen in den Blick genommen.

Die Vergangenheit hat gezeigt, dass diese Erwartungen schnell von der Realität überholt werden können und die Planungen oftmals keine Reserven vorsehen, um auf solche unerwarteten Veränderungen zu reagieren. Mit dem Stichwort „demografische Rendite“ wird stattdessen unterstellt, dass sich durch mittelfristig sinkende Kinderzahlen eine Unterversorgung an Lehrkräften von alleine auflöse. Ein Blick auf Abbildung 1.1 zeigt, dass bereits Prognosen zu mittleren Zeithorizonten mit größeren Unsicherheiten behaftet sind. Dort ist die Entwicklung der Zahl der Schüler*innen an allgemeinbildenden Schulen in NRW sowie die aufgrund verschiedener Vorausberechnungen erwarteten Anzahlen dargestellt (KMK, 2006, 2009, 2018, 2022; MSB NRW, 2019, 2023). Die Schüler*innenzahlen der regionalisierten Schülermodellrechnung von IT.NRW (2020) fallen geringer aus, da dort Förderschulen und Freie Waldorfschulen nicht berücksichtigt wurden.

Der Abgleich der Vorausberechnungen aus der Vergangenheit mit dem tatsächlichen Verlauf zeigt, dass es in mittlerer zeitlicher Perspektive zu größeren Abweichungen zwischen den Modellen und den tatsächlichen Schüler*innenzahlen kommen kann. Auf der Ebene kommunaler oder kleinräumigerer Vorausberechnungen wird die Unsicherheit noch einmal deutlich zunehmen.

In die Vorausberechnungen gehen insbesondere zwei Einflussgrößen ein: die demografische Entwicklung (Geburten, Sterbefälle und Wanderungen) sowie das Schulwahlverhalten nach der Grundschule und nachfolgende Schulformwechsel oder Klassenwiederholungen der Schüler*innen. Betrachtet man das Schulwahlverhalten auf Landesebene, zeigt sich, dass diese Einflussgrößen über längere Zeiträume unverändert bleiben, aber strukturelle Änderungen im Schul(form)angebot auch deutlichere Veränderungen hervorrufen können (Abbildung 1.2). Auf Ebene der Kreise können Änderungen im Schulangebot noch stärkere Effekte haben und innerhalb eines Jahres um bis zu 10 Prozentpunkte abweichen.

Die Unsicherheit bei der Bevölkerungsvorausberechnung liegt vor allem an den Änderungen der Geburtenraten und den Wanderungen innerhalb Deutschlands sowie ins bzw. aus dem Ausland. Den Wanderungen aus dem Ausland kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da sie nicht nur direkte Auswirkungen auf die Anzahl an Kindern- und Jugendlichen haben, sondern auch die Fertilitätsraten beeinflussen, denn die zusammengefasste Geburtenziffer nicht deutscher Frauen lag in der Vergangenheit häufig über der deutscher Frauen (IT.NRW, 2019).

Wie groß die Volatilität der Wanderungsbewegungen ist, zeigt Abbildung 1.3. Dort ist das Verhältnis zwischen dem geschätzten Zu- bzw. Fortzug von Kindern im ersten Lebensjahr in die Gemeinden der Regionen und den Geburten abgetragen. Da das Statistische Bundesamt die Zahl der Zu- und Fortzüge auf regionaler Ebene nur für die Gruppe der Minderjährigen insgesamt ausweist, wurde die Zahl der Säuglinge über den Anteil der Säuglinge an den Minderjährigen auf Bundesebene (7 %) geschätzt.

Unter dieser Annahme wird deutlich, dass sich die Zahl der Neugeborenen, die später in das Bildungssystem aufgenommen werden, aufgrund von Wanderungsbewegungen kurzfristig um ca. 4 % erhöht haben kann. In der Metropole Ruhr stieg der Anteil der unter Einjährigen 2015 durch Zuzug aus dem Ausland bspw. um 4,9 % gegenüber den Geburten und um 9,7 % durch Zuzüge über die Gemeindegrenzen in der Region. Demgegenüber lag der Anteil an Fortzügen ins Ausland gegenüber den Geburten nur bei 1,7 % und an Fortzügen über die Gemeindegrenzen bei 6,1 %. Im Saldo ergibt dies ein Plus von 3,6 % gegenüber den Geburten.

Vorausberechnungen können solche starken Veränderungen nicht berücksichtigen und haben – wie in der Regel auch in der Dokumentation der Modellrechnungen konstatiert – nur einen Modellcharakter, der Wenn-dann-Aussagen erlaubt. Dennoch sind solche Modelle oftmals handlungsleitend. Welche Kommune kann angesichts knapper öffentlicher Haushalte entgegen der Prognosen Schulräume über den prognostizierten Bedarf bereitstellen und erhalten? Woran soll sich die Ausbildung von Lehrer*innen orientieren?

Es wäre es lohnenswert, diese Unsicherheiten in der Bildungsplanung mit zu berücksichtigen. Aus der kommunalen Perspektive schlägt Terpoorten (2022) „atmende Schulen“ vor, die sich je nach Bedarf vergrößern oder verkleinern. Klemm und Zorn (2024) plädieren darüber hinaus für eine zeitnahe Beobachtung demografischer Entwicklungen und eine finanzpolitisch verbindliche Haltung, die „demografischen Renditen“ nicht für Einsparungen zu nutzen, sondern diese Kapazitäten in „Phasen des personellen Überangebots“ (S. 15) für pädagogische Verbesserungen einzusetzen.

Demografische Prozesse sind jedoch nicht nur für Prognosen relevant, sondern zeigen auch aktuelle Herausforderungen im Bildungssystem auf. Im Folgenden werden deshalb zentrale Befunde zur Bevölkerungsentwicklung im Anschluss an den Berichtszeitraum des vergangenen Bildungsberichts dargestellt.

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