Bildungsbericht Ruhr 2020

Rahmenbedingungen

Prof. Dr. Jörg-Peter Schräpler
Sebastian Jeworutzki

Strukturwandel führt zu wesentlichen Veränderungen der Beschäftigungsstruktur

Der Strukturwandel hat im Ruhrgebiet zu erheblichen Veränderungen der Beschäftigtenstruktur geführt (vgl. Schräpler et al. 2017, Jeworutzki et al. 2017, S. 57 ff). Viele klassische Industriestandorte haben eine vielfältige Transformation erfahren, ebenso haben sich Unternehmen aus anderen Branchen angesiedelt. Anfang der 1970er-Jahre war der größte Anteil an der Bruttowertschöpfung in Nordrhein-Westfalen noch auf das Produzierende Gewerbe entfallen. Seit Beginn der 1970er-Jahre ist der Anteil des Dienstleistungsbereichs an der Bruttowertschöpfung immer weiter angestiegen: von knapp 50 % auf rund 70 % im Jahr 2005. In diesem Zeitraum entfallen positive Wachstumsraten fast vollständig auf den Dienstleistungsbereich und darin insbesondere auf produktionsnahe Dienstleistungen in der Industrie (Schräpler, 2007, S. 42).

Diese Entwicklung spiegelte sich ebenfalls in der Beschäftigtenstruktur wider: Nach Angaben des Regionalverbands Ruhr waren im Jahr 1970 etwa 40,0 % der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Ruhrgebiet in einem Dienstleistungsberuf tätig (Regionalverband Ruhr, 2012b, S.8).

Im Jahr 2009 hat sich der Anteil an sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den Dienstleistungsberufen im Ruhrgebiet auf insgesamt 71,4 % erhöht. In den darauffolgenden Jahren ist der Anteil weiter gestiegen und betrug im Jahr 2018 76,3 % (Regionalverband Ruhr, 2020). Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe ist im Ruhrgebiet hingegen von 58,4 % im Jahr 1970 (Regionalverband Ruhr, 2012b, S. 8) auf 23,5 % im Jahr 2018 gesunken (Regionalverband Ruhr, 2020).*Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Produzierenden Gewerbe ist in den Städten des Ruhrgebiets unterschiedlich hoch. Besonders niedrig ist er z. B. in Essen, im Jahr 2018 lag er hier bei 16,7 %. In Duisburg lag der Anteil dagegen noch bei 26,3 % (Regionalverband Ruhr, 2020).

Vergleich mit den anderen Regionen auf Basis der Erwerbstätigenstatistik

Zum Vergleich mit den anderen Regionen wird die Erwerbstätigenstatistik auf Basis der Daten des Mikrozensus herangezogen. Die Zahl der Erwerbstätigen fällt höher aus als die der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, da bei dieser Betrachtung auch Selbstständige, Beamte und geringfügig Beschäftigte mit einbezogen werden. Abbildung 1.19 zeigt die Verteilung der Anteile der Erwerbstätigen*Als „erwerbstätig“ gelten Personen ab 15 Jahre, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, selbstständig ein Gewerbe betreiben oder freiberuflich tätig sind, inkl. Beamter und mithelfender Familienangehöriger. Die Dauer der tatsächlich geleisteten oder vertragsgemäß zu leistenden wöchentlichen Arbeitszeit spielt keine Rolle. auf die WirtschaftssektorenZur Strukturierung werden Volkswirtschaften häufig in Wirtschaftssektoren unterteilt: in einen primären (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei sowie Gewinnung von Bodenschätzen), einen sekundären (Produzierendes Gewerbe und Handwerk) sowie einen tertiären (Dienstleistungssektor).Wirtschaftsbereiche des sekundären und tertiären Sektors für die Regionen im Beobachtungszeitraum. Der tertiäre Sektor wird noch in „Handel, Gastgewerbe und Verkehr, Information und Kommunikation“ sowie „sonstige Dienstleistungen“ unterteilt. In den Metropolregionen sind die Anteile Erwerbstätiger im primären Sektor sehr gering und die Angaben des MikrozensusDer Mikrozensus ist die jährliche Haushaltsbefragung der amtlichen Statistik, bei der ungefähr 1 % der Bevölkerung zu Demografie, Erwerbstätigkeit und Bildung befragt werden. Da es sich beim Mikrozensus um eine repräsentative Zufallsstichprobe handelt, lassen sich die Ergebnisse auf die Gesamtbevölkerung übertragen und erlauben aufgrund der großen Anzahl an Befragten zudem auch regionale Analysen.

Vergleichbarkeit der Angaben aus dem Mikrozensus

Durch Umstellung auf eine neue Stichprobe 2016 ist die Vergleichbarkeit der Mikrozensusergebnisse ab dem Berichtsjahr 2016 mit Jahren davor teilweise eingeschränkt. Durch eine neue Auswahlgesamtheit im Jahr 2016 ist anzunehmen, dass größere Haushalte und insbesondere Ehepaare mit Kindern im Mikrozensus geringfügig unterrepräsentiert sind. Diese Unterrepräsentation kumuliert sich über die Jahre, sodass bei einer Aktualisierung der Auswahl das Niveau wieder angehoben wird. In der Zeitreihe macht sich diese Niveauanpassung durch eine Zunahme größerer Haushalte sowie von Ehepaaren mit Kindern bemerkbar. Des Weiteren ist zu vermuten, dass mit der Niveauanpassung von Ehepaaren mit Kindern auch eine Zunahme der Erwerbstätigen einhergeht, da Väter eine generell hohe Erwerbsbeteiligung aufweisen (Statistisches Bundesamt, 2017).
Mikrozensus
nur eingeschränkt belastbar. Für die betrachteten Regionen werden die Anteile daher nicht ausgewiesen.

Im Vergleich ist erkennbar, dass in keiner anderen Region in den betrachteten fünf Jahren die Anteile Erwerbstätiger am Produzierenden Gewerbe so stark gesunken sind wie im Ruhrgebiet. Der Anteil sinkt von 27,0 % im Jahr 2013 auf 23,3 % im Jahr 2018. Die Anzahl Erwerbstätiger ist hier um rund 8 % zurückgegangen. Das industrielle Herz schlägt in Nordrhein-Westfalen mittlerweile nicht mehr im Ruhrgebiet, sondern in Süd-Westfalen (Bogumil et al., 2013). Das zeigt sich auch im regionalen Vergleich: In Westfalen und in der Region Stuttgart liegen die Erwerbstätigenanteile in der Industrie noch bei über 30 %. Das Ruhrgebiet hat dagegen in diesem Zeitraum deutliche Zuwächse bei der Anzahl Erwerbstätiger im Wirtschaftsbereich Handel und Verkehr (+13,0 %) sowie sonstige Dienstleistungen (+10,6 %). Die hohen Beschäftigungsverluste im Produzierenden Gewerbe konnten allerdings im Ruhrgebiet nicht vollständig durch den Beschäftigungszuwachs im tertiären Bereich ausgeglichen werden. Bogumil u. a. beschreiben diese Entwicklung als das »Kernproblem des Ruhrgebiets« (Bogumil et al., 2012, S. 46).

Beschäftigungsstarke Branchen im Dienstleistungsbereich im Ruhrgebiet

Von den insgesamt 2,35 Mio. Erwerbstätigen im Jahr 2018 sind im Ruhrgebiet 1,75 Mio. Personen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das sind 8,7 % mehr als noch im Jahr 2013. Von den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sind 1,33 Mio. im tertiären Sektor tätig.*Daten von IT.NRW, Mikrozensus sowie Daten der Bundesagentur für Arbeit, zur Verfügung gestellt vom Regionalverband Ruhr (2020). Die gestiegenen Beschäftigtenanteile im Dienstleistungsbereich lassen sich im Ruhrgebiet u. a. vor dem Hintergrund neu entstandener Beschäftigungsmöglichkeiten erklären. Ein Beispiel dafür ist der Ausbau der Hochschullandschaft ab den 1960er-Jahren: 1961 wurde zunächst die Ruhr-Universität Bochum gegründet, es folgte die Technische Universität Dortmund im Jahr 1968 und dann die Gesamthochschule Duisburg sowie die Gesamthochschule Essen 1972 (vgl. Bogumil et al., 2012, S. 43). Mit der zunehmenden Bedeutung von Wissen gewannen die wissensbasierten und auch die kreativen Dienstleistungen zunehmend an Relevanz, vor allem gegenüber der materiellen Produktion. Ebenso hat das Gesundheits- und Sozialwesen enorme Arbeitsplatzzuwächse zu verzeichnen. In diesem Wirtschaftsabschnitt (Klassifikation der Wirtschaftszweige nach WZ 2008) sind im Jahr 2018 mehr als 313.000 Personen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das entspricht einem Zuwachs gegenüber dem Jahr 2013 von 18,7 %. Der Bereich Handel und Instandhaltung sowie Reparatur von Kraftfahrzeugen legt gegenüber 2013 um 6,4 % zu und umfasst im Jahr 2018 ca. 255.000 Beschäftigte. Die Logistikbranche bzw. der Bereich Verkehr und Lagerei wuchs um 17 % auf 113.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Neben diesen erfolgreichen Entwicklungen kam es auch zu einem Anstieg der Arbeitsplätze im einfachen Dienstleistungsbereich. Diese Arbeitsplätze zählen nicht zum wachstumsträchtigen und wissensbasierten Dienstleistungsbereich, da sie häufig eine geringere Qualifikation der Arbeitnehmer*innen erfordern, wie beispielsweise bei Tätigkeiten im Wach- und Sicherheitsgewerbe oder in Call-centern. Dazu erfolgt eine tendenziell geringe Bezahlung, die zum Teil nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts ausreicht (vgl. Bogumil et al., 2012, S. 46 f.).

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